Bioökonomie – von der anderen Seite des Flusses gesehen

Franz-Theo Gottwald

„Wir sind Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ – dieses organische Naturverständnis des Ethikers und Arztes Albert Schweitzer verliert derzeit an orientierungsgebender Kraft. Denn gerade viele Aussagen von Bioökonom:innen offenbaren eine andere Einstellung dem Leben gegenüber: Pflanzen, Pilze, Bäume, von den Menschen genutzte Tiere werden auf ihren Nutzwert reduziert, um als biobasierter Rohstoff mit technischen Verfahren zu verkaufsfähigen Produkten tauglich gemacht zu werden. Das Zielbild scheint eine „Welt als Fabrik“ zu sein, die das Überleben einer wachsenden Menschheit in einem passend dazu neu erfundenen „Zeitalter des Anthropozän“ sichern soll.

Damit Leben nicht als eine (biotechnologisch) beliebig manipulierbare Ressource (miss-)verstanden wird, könnte eine andere Perspektive eingenommen werden: Wie wäre es, wenn Leben als unverfügbar angesehen würde, also allen Lebewesen und Lebensräumen Würde, Eigenwerte und Freiheitsrechte zugesprochen würden? Was würde sich ändern, wenn das Leben als unveräußerbar anerkannt würde – und nur nach strengen, politisch genormten Regeln kommodifizierbar und monetarisierbar wäre? Wie würden sich Wissenschaft und Technik entwickeln, wenn Leben als unreduzierbar und nicht als „Legowelt der Lebensbausteine“ begriffen würde; wenn also ein ganzheitliches Erforschen der systemischen Zusammenhänge und der wechselseitigen Dienstleistungen füreinander leitend wäre? Wer würde dann wie viel Forschungsmittel erhalten?

Und, aus Sicht der gläubigen Menschen: Was wäre im gesellschaftlichen Naturverhältnis anders, wenn Leben unbedingt wäre? Also wenn Leben, das Biotische von einem höheren Wesen so gewollt wäre wie es ist, und deshalb mit Schutzrechten ausgestattet wäre oder gar unbedingt schützenswert wäre? Bräuchte es dann die „Perfektion aus der Petrischale“?

Für eine soziale und ökologisch verträgliche Kultur des Aushandelns der Wege in eine nachhaltige Land-, Fisch- und Forstwirtschaft, die den Test der Zeit nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell bestehen kann, könnte es hilfreich sein, diese Perspektiven mit ihren Herausforderungen und Zumutungen einzuladen. Es würde wahrscheinlich zu intergenerational verträglicheren, naturpositiven Lösungen führen.


Franz-Theo Gottwald, Dr.phil, Dipl.Theol.; Hon.Prof. für Umweltethik am Thaer Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften HU Berlin; Senior Advisor Schweisfurth Stiftung; Vorsitzender des Aufsichtsrat World Future Council; Autor zahlreicher Fachpublikationen zu Fragen der Nachhaltigkeit von Innovationen (Bioökonomie, Digitalisierung, ökologischer Nutztierhaltung, Agrarökologie) und zur Agrarpolitik.